Interview mit Wolfgang Hees am 26.10.2021 in Eichstetten
Eichstetten am Kaiserstuhl. Eine Gemeinde mit etwas über 3000 Einwohner*innen und Gewinnerin des bundesweiten Wettbewerbes „Zukunftsfähige Kommune“ der Deutschen Umwelthilfe. Hier gibt es insgesamt ca. 750 Hektar Landwirtschaft, davon 450 für Reben und 350 im Gemüse- und Obst-Anbau. Heute besuche ich Wolfgang Hees, der ca. 7 Hektar davon bewirtschaftet.
Der Landwirt Wolfgang Hees baut vor allem Gemüse und Kräuter an. Z.B. Salbei, Liebstöckel und große Mengen Basilikum, sowie tonnenweise Lauch für die Herstellung von Kräutersalz. Mit dem Traktor fahren wir auf eine seiner Flächen, auf der sich ein Anbautunnel befindet. Dieses Jahr wuchsen darin Tomaten und Gurken. Gemeinsam wollen wir heute die letzten Pflanzen entfernen, aufräumen und den Boden für die Winterpause frisch machen.
Währenddessen kommen wir ins Gespräch. Zunächst möchte ich wissen, weshalb sich Wolfgang beim Ernährungsrat engagiert. Er antwortet, dass er gerne neue Kontakte knüpfe und ihn Strukturen interessieren. Dies sei auch ein Grund, weshalb er beim Projekt der Ernährungsstrategie mitwirkt, ihn beschäftigt die Frage, wie wir nachhaltige Strukturen schaffen können.
Wir tauschen uns weiter aus über Kultur, die für ihn eine große Rolle beim Thema Ernährung spielt, denn sie ist das, was den Rahmen gestaltet. Daneben ist ihm politische Arbeit sehr wichtig, weshalb er bei der AbL Mitglied ist und im Vorstand als 2.Landesvorsitzender mitarbeitete bis er aktuell Landesgeschäftsführer wurde. Die AbL ist die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, die unter anderem politische Forderungen formuliert, um für die Interessen bäuerlicher Betriebe zu stärken.
Wir schwingen Schaufeln und Harken, lockern einen Jahre alten Komposthaufen und verteilen ihn auf das leergeräumte Gemüsefeld.
Als ich Wolfgang nach seiner Motivation für seine Arbeit – als Landwirt, aber vor allem für sein Engagement – frage, überlegt er eine Weile, bevor er sich an seine Kindheit und Jugend erinnert.
Schon als Kind hatte er seinen ersten Erwerbsgarten, war immer draußen in der Natur, folgte den Spuren des Fuchses. Mit 14 meldete er seine erste Fahrraddemo an mit dem Motto „Wir haben nichts zu verlieren außer unsere Ketten!“, wie er lachend sagt. Statt dann in Freiburg ein Studium zu beginnen, entschied er sich für eine Ausbildung zum Landwirt. Dort sah er, was in der Landwirtschaft alles möglich ist und erlernte unter anderem den Umgang mit größeren Maschinen.
Da Wolfgang in Brasilien geboren wurde, zog es ihn bald dorthin zurück. Er leistete Entwicklungsarbeit und tauschte sich mit Bauern und Bäuerinnen dort aus. Wie er beschreibt, ist er zu einem großen Teil in Brasilien sozialisiert worden und somit schon früh mit der Problematik der Unterernährung in Kontakt gekommen. Er berichtet wie mitreißend es ist, wenn man länger in diesem Land gelebt hat und aber auch weiß, unter welchen Bedingungen die Menschen leben, und was z.B. intensiver Sojaanbau für die Bevölkerung bedeutet.
Bald kommen wir zu seinem Herzensthema, der Landlosenbewegung Brasiliens. Die MST (Movimento dos Sem Terra) gründete sich vor mehr als 30 Jahren als Reaktion auf Landflucht und ungleiche Landverteilung. Die Bewegung setzt sich für soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde, ebenso für Bildungsgerechtigkeit und die Gleichberechtigung der Frauen ein. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht „die arme Landbevölkerung zu organisieren, sie ihrer Rechte bewusst zu machen und sich für Veränderung einzusetzen.“ (https://mstbrasilien.de/mst/geschichte/) Die erste Landbesetzung der MST fand 1984 statt und bis heute konnten 500.000 Familien wieder Land gewinnen.
Ein Riesenprojekt, was Wolfgang Hees mit aufbaute war eine 2005 gegründete nationale Schule der MST. Die Escola Nacional Florestan Fernandes ist das Kernstück der Landlosenbewegung Brasiliens. Als er mir davon berichtet, hebt Wolfgang hervor, wie wichtig die Bildungskomponente sei. Die Schule habe schon 4000 Lehrkräfte ausgebildet und schult vor allem ärmere Menschen in Themen wie Agrarreform und Nahrungsmittelsouveränität. Weitere Inhalte sind Ökoanbau, die Verbindung zu anderen sozialen Bewegungen sowie Gewaltfreiheit.
Aufmerksam höre ich zu, wie viel diese Bewegung der Landlosen in den letzten Jahrzehnten organisiert und geschafft hat, und ich frage Wolfgang, ob es etwas gibt, was wir in Deutschland von anderen Bewegungen, wie beispielsweise der in Brasilien lernen können. Er nickt und meint, der große Unterschied sei der Aktionsgrad mit dem die Aktivist*innen demonstrieren. Sie sind von einer sehr starken Motivation getrieben, was nicht zuletzt auch an der Notsituation liegt, in der sie sich befinden. Beeindruckend sei besonders das Mobilisierungspotential, mit dem die Bevölkerungsgruppen aufgefordert werden auf die Straße zu gehen und da könne man wirklich was von ihnen lernen.
Etwas müde und vor allem hungrig beenden wir vorerst unsere Gartenarbeit, essen zu Mittag und ich betrete mit großen Augen Wolfgangs Büro, in dem ausdrucksstarke Bilder des bekannten Fotografen Sebastião Salgado, welche in Zusammenarbeit mit der Bewegung entstanden und Teil der Ausstellung TERRA sind, hängen sowie die Flagge der MST.
Beim nachmittäglichen Mulchen komme ich noch einmal auf die Arbeit beim Ernährungsrat zu sprechen und erkundige mich, weshalb solch eine Arbeit wichtig sei. Wolfgang antwortet, die Landwirt*innen alleine würden die Bewegung für die notwendige Agrar- und Ernährungswende nicht schaffen, dazu brauche es eine breite zivilgesellschaftliche Allianz. Er betont dabei, welchen Einfluss wir als Konsument*innen haben, aber ebenso ist es die Aufgabe des Lands Baden-Württemberg, welches hier vor Ort so viel mehr machen könnte.
Bevor wir uns verabschieden, frage ich Wolfgang, was er antwortet, wenn er nach seinem Beruf gefragt wird. Für so viel Engagement und unterschiedliche Projekte scheint mir eine alleinige Bezeichnung nicht ausreichend. „Bauer“, antwortet er und sieht dabei ziemlich zufrieden aus.
Im Text verwendete Quellen: